Wie gehen die Deutschen künftig mit dem Krieg um – und einem Herbst voller Sorgen entgegen? Das Psychogramm eines Landes zwischen Realitätsverdrängung, Unverfrorenheit, Protestbereitschaft – und ganz viel Lust auf Verzicht, der mit seelischem Mehrwert aufgeladen werden kann.
Dieses Essay erschien in der Online-Ausgabe der WirtschaftsWoche vom 30. August 2022.
Wie werden die Deutschen reagieren, wenn Herbst und Winter kommen, wenn die Energiekrise keine ferne Drohkulisse mehr ist, sondern Alltagsrealität? Mutieren die Bürger zu Spar-Weltmeistern oder drohen Volksaufstände, wie Außenministerin Annalena Baerbock befürchtet? Eine prognostische Annäherung an diese Fragen ermöglicht der Blick auf die seelische Verfassung des Landes angesichts von Kriegswirklichkeit und Preisauftrieb.
Unsere tiefenpsychologischen Studien zeigen, wie rasant sich die Befindlichkeit der Menschen seit Kriegseintritt verändert hat. Anfang März befanden sich die Bürger zunächst in einer Art Schockstarre. Fassungslos erlebten sie, wie eine Kriegswirklichkeit mit einem unvorstellbaren Eskalationspotenzial in ihren Alltag einbrach. Ihrer anfänglichen Ohnmacht versuchten sie zu entkommen durch permanentes Updaten in der Dauer-Nachrichten-Schleife, durch Hilfsbereitschaft und Solidaritätsbekundungen oder durch private Ablenkungsmanöver.
Bereits im Mai veränderte sich die Seelenlage gravierend. Das Kriegsgeschehen wird seitdem weitgehend verdrängt zugunsten einer Normalitätsbeschwörung. Der Konsum von Nachrichten ist bei vielen drastisch gesunken. Vor allem die erschütternden Bilder vom Kriegsgeschehen werden gemieden. Beim Small Talk redet man jetzt wieder lieber über Corona als über den Krieg. Der Krieg bleibt dennoch als eine Art zermürbender Tinnitus im Hintergrund spürbar. Übertönt wird dieser Tinnitus durch verschiedene Strategien der Selbstbeschwichtigung und Alltagsstabilisierung. Die Menschen betreiben Sport, um sich krisenfit zu machen. Sie suchen das harmonische Zusammensein im Freundeskreis. Sie bunkern Lebensmittel, verschieben Investitionen oder kaufen einen Brotbackautomaten, um sich autonomer zu fühlen.
Die Inflation und die Gaskrise verlagern zudem seit dem Frühsommer die Aufmerksamkeit auf die heimischen Probleme, die jedoch bei den meisten Menschen seelisch noch nicht durchschlagen. Noch sind die Tanks halbwegs gefüllt. Hohe Energiepreise und kalte Wohnzimmer sind noch eine ferne Drohkulisse und nicht real im Alltag angelangt. Die Energetisierung wird derzeit vor allem in der Selbstvergessenheit und Hitzigkeit des Sommers gesucht, in dem bebenden Wunsch, nach den zehrenden Coronajahren für ein paar Wochen die Zeit anzuhalten und wieder unbeschwerte und ausgelassene Momente zu erleben. Auf Partys wird ausgelassen gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Das wirkt mitunter wie der Tanz auf dem Vulkan. Ja, Winter is coming, aber: Endless summer is happening.
Im kommenden Herbst und Winter werden die weggehaltenen Probleme rund um die Gasversorgung und Inflation mit großer Wucht den Alltag der Deutschen bestimmen. Dadurch wird der Winterfrust verstärkt, der bereits im vergangenen Jahr in unseren Studien beobachtbar war. Dieser Frust gründet sich vor allem in drei Aspekten, die sich wechselseitig verstärken: einem großen Machbarkeitsdilemma, einer resignativen Grundhaltung und einer gewachsenen Selbstbezüglichkeit.
Die meisten Bürger leugnen nicht die Krisen und Probleme, aber sie haben keine Idee, wie sie oder die Politiker die immensen Problemberge abtragen können. Das Machbarkeitsdilemma wird durch eine resignative Grundhaltung verstärkt, die oft mit Lust- und Antriebslosigkeit einhergeht. Viele Bürger haben sich in den Coronajahren in einer Art Enttäuschungsprophylaxe eingerichtet. Um nicht ständig deprimiert zu werden, weil Vorhaben scheitern, kappen sie vorsorglich ihre Wünsche und begnügen sich damit, dass das eigene Leben allenfalls einen milden Verlauf nimmt. Machbarkeitsdilemma und Resignation verstärken wiederum den Rückzug der Bürger in die Selbstbezüglichkeit. Viele denken nicht mehr in globalen, europäischen oder nationalen Dimensionen, sondern sind auf sich und ihr unmittelbares regionales Umfeld bezogen. Es steht zu befürchten, dass die bei Kriegsbeginn einsetzende Welle der Solidarität im Winter unsanft auslaufen wird.
Mit Veränderungszuversicht durch den Winter
Der kommende Winter birgt jedoch auch die Chance, dem lähmenden Machbarkeitsdilemma zu entkommen. Denn die Probleme rund um die Versorgungsengpässe und Energieeinsparungen sind weder abstrakt noch global, sondern konkret, auf den Alltag bezogen und daher handhabbar. Den Heizknopf, den Warmwasserhahn, die Zapfpistole oder den Einkauf – das alles haben die Menschen buchstäblich in der eigenen Hand. Der kommende Winter friert die Handlungsmöglichkeiten der Bürger nicht ein, sondern schafft Raum für beherztes Anpacken und Selbstwirksamkeit. Er birgt die Chance, über sich hinauszuwachsen und Veränderungszuversicht zu gewinnen.
Das bedeutet für die Politik den Übergang von der bemutternden Fürsorge einer Angela Merkel zu einer erwachsenen Haltung, die die Bürger zur Mitverantwortung und Mitgestaltung aufruft. Dieser Übergang scheint zu gelingen, da Kanzler, Vizekanzler und Außenministerin ein politisches Triptychon bilden, das unterschiedliche Übergangsmomente verkörpert und initiiert.
„Der kommende Winter friert die Handlungsmöglichkeiten der Bürger nicht ein, sondern schafft Raum für beherztes Anpacken und Selbstwirksamkeit – und birgt die Chance, über sich hinauszuwachsen“
Olaf Scholz verspricht als väterlicher Ruhepol, dass der Versorgungsrahmen erhalten bleibt und die Bürger in der Not eine finanzielle Rückendeckung erhalten („You’ll never walk alone“). Robert Habeck agiert wie ein großer Bruder auf Augenhöhe. Er benennt die Probleme, und man sieht ihm die Schmerzlichkeit des Übergangs förmlich an. Dadurch wirkt er transparent und ehrlich. Er gibt aber auch eine Richtung vor, indem er Verzicht fordert und Zuversicht vermittelt. Annalena Baerbock wiederum avanciert durch die Klarheit ihrer Positionen und ihre Bereitschaft anzuecken zum Gegenbild der German Angst. Sie verkörpert in ihrer Dynamik und Konsequenz Jeanne-d’Arc-Qualitäten.
Obwohl die Politik die Bürger auf den Übergang einschwört, werden nicht alle mitziehen. Es ist mit Spaltungstendenzen und Lagerbildungen zu rechnen, die sich ähnlich bereits im Umgang mit Corona gezeigt haben. Ein Großteil der Bürger wird den Sparappellen folgen und bereit sein, dem Risiko und der Krise zu trotzen. Die meisten werden sich einschränken und eine Art Spar- oder Entbehrungsstolz entwickeln. In vielen Betrieben und Haushalten dürften wir einen Selbstdisziplinierungswettbewerb um den inoffiziellen Titel des Sparweltmeisters erleben. Manche werden der Politik und den Maßnahmen trotzen. Dabei werden sie zu beweisen suchen, dass all die Einschränkungen eigentlich unnötig sind, da Ausdruck einer fehlgeleiteten Russlandpolitik oder einer Solidarität mit der Ukraine, der die Interessen des eigenen Landes geopfert würden. Beide Lager werden interagieren. Desto mehr die Sparwilligen ihren Verzicht moralisch überhöhen und zu Sparwächtern avancieren, desto stärker wird sich die Reaktanz der Trotzigen artikulieren.
Es wird zudem Menschen geben, die sich von der Krise materiell zu lösen suchen, weil sie über die finanziellen Möglichkeiten verfügen, sich das Sparen zu sparen. Die Lebenswirklichkeit der Besserverdienenden wird sich drastisch von denjenigen unterscheiden, die sich bereits vor der Gaskrise einschränken mussten – und die von den erwartbar hohen Nachzahlungen empfindlich getroffen werden. Der Winter birgt daher das Risiko, dass die soziale Kälte und Spaltung im Lande zunimmt.
Eine vierte Gruppe von Menschen wird sich einschränken, sich dabei aber ideell von Krise und Politik lösen – und versuchen, der drohenden Kälte mit Selbstfürsorge und Herzenswärme zu begegnen. Kaminfeuer, Kerzen, warme Decken, Tees und Düfte sollen eine gemütliche Atmosphäre schaffen.
Grundsätzlich wird die Akzeptanz des Sparens steigen, wenn es nicht in einer Defizitlogik steht, sondern mit einem seelischen Mehrwert aufgeladen wird. Die Orientierung am historischen Vorbild der Spartaner kann das Sparen mit Haltung und Bedeutung aufladen. Der Aufruf „Weck den Spar-taner in dir“ wird dann zum Ausdruck von Solidarität, Autonomie und persönlicher oder staatlicher Widerstandskraft.
Der Psychologe Stephan Grünewald aus Köln ist Gründer des Markt- und Medienforschungsinstituts rheingold. Grünewald wurde u.a. mit den Büchern „Deutschland auf der Couch“ (2006) und „Die erschöpfte Gesellschaft“ (2013) sowie “Wie tickt Deutschland” (2019) Bestseller-Autor.
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