Ich-Sucht oder Wir-Gefühl

Ich-Sucht oder Wir-Gefühl?

Das „Wir-Gefühl“ bröckelt – nicht erst seit Corona. Doch es gibt Wege den gesellschaftlichen Schulterschluss wiederherzustellen. Welche das sind, beschreibt Stephan Grünewald in seiner Kolumne „Deutsche Zustände“, die regelmäßig im Kölner Stadt-Anzeiger veröffentlicht wird.

Diese Kolumne erschien am 9. Januar 2021 im Kölner Stadt-Anzeiger.

Mit dem Wort Virus ist zumindest klanglich ein Wir-Versprechen (Wir/us) verbunden, das sich zu Beginn der Pandemie auch einlöste. Die Menschen erlebten Corona als ein gemeinsames Schicksal. Die Bereitschaft war anfangs groß, sich dem Virus im kollektiven Schulterschluss und Verzicht entgegenzustellen. Aber mit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 bröckelte diese Solidarität bereits wieder. Zweifel wurden wach, ob die Maßnahmen nicht übertrieben oder doch zu lasch seien. Für den besser alimentierten Teil der Bevölkerung war der Lockdown eine Chance zur Entschleunigung, während der andere Teil von existenziellen Sorgen geplagt war oder zuhause unter räumlicher Enge litt.

Zudem unterminiert die Maskenpflicht das Wir-Gefühl, weil sie beim Gegenüber eher Befremden als Vertrauen auslöst. Die Maske verdeckt das soziale Mienenspiel und gemahnt beim Gegenüber eher an Bankräuber oder bissige Hunde als an fürsorgliche Mitmenschen. Selbst beim Begrüßungsritual werden wir derzeit zu einer Ellenbogen-Gesellschaft. Die sozialen Distanzgebote machen aus der Kultur der Nächstenliebe eine Kultur der (digitalen) Fernbeziehung.

Schließlich begünstigt Corona auch den Rückzug in private Eigenwelten und eine zunehmende Blickverengung. Die globale oder auch nur nationale Perspektive weicht nicht nur beim Konflikt um die Impfdosen einem regionalen Fokus und dem Eigeninteresse.

Corona verstärkt bestehende Gemeinschaftsdefizite

Corona ist allerdings nicht die Mutter aller Wir-Probleme, sondern hat Gemeinschaftsdefizite verstärkt, die bereits vorher da waren. Das zeigt der Blick auf drei wichtige Keimzellen des Wir-Gefühls: die Familie, die Arbeit und die Medien. Vor allem die klassische Familie ist seit langem brüchig. Wir leben heute in einer Patchwork-Welt, die oft geprägt ist durch die Angst der Kinder, dass auch die eigene Familie als Grundform des Wir jederzeit auseinanderbrechen könnte. Das Urvertrauen in einen bergenden Zusammenhalt ist oft lädiert. Mediale Bindungsangebote versprechen daher häufig mehr Sicherheit und Verfügbarkeit als Liebesbeziehungen.

Ähnlich ist es in der Arbeitswelt. Im Idealfall schafft sie soziale Nähe im Kollegenkreis und gemeinsame Ziele. Aber wenn nur noch Quartalszahlen zählen und Mitarbeitende als Kostenfaktoren behandelt werden, die jederzeit outgesourct werden können, schwinden Vertrauen und Wir-Gefühl. Jeder rettet sich, wie er kann. Das Homeoffice verschärft zudem die Vereinzelung, da der persönliche Freiheitsgewinn den Gemeinschaftsverlust in Kauf nimmt.

Die Medien schließlich sorgten früher für eine kollektive Taktung und eine gemeinsame Blickrichtung. Vor allem das Fernsehen schaffte so eine Art Lagerfeuer-Effekt. Im Internet wird aus dem Gemeinschaftsraum oft ein Selbstbespiegelungsraum, in dem sich Nutzerinnen und Nutzer narzisstisch um die eigenen Interessen oder Leidenschaften drehen und allenfalls Echokammern von Gleichgesinnten entstehen.

Fünf Schneisen zur Neueröffnung des “Wir-Gefühls”

Auch in der Zeit nach Corona wird das „Wir“ eine ewige Herausforderung bleiben. Fünf Schneisen können dabei den Zugang zum Wir neu eröffnen. Ausgangspunkt ist paradoxerweise eine Streitkultur, denn ein Wir entsteht nur im Widerstreit. Der Streit stärkt das Wir, weil er nicht nur die eigene Position klärt, sondern auch die Differenzen sichtbar macht. Dadurch eröffnet er die Möglichkeit, den anderen zu verstehen, aber auch durch Kompromisse Trennendes zu überwinden.

Das Wir braucht zweitens gegenseitige Wertschätzung, sonst taugt der Streit nicht zur Befriedung, sondern führt zu Kränkung und Herabsetzung. Pauschale Abwertungen Andersdenkender stärken vielleicht das eigene Ego oder das des eigenen Sozialkreises, führen aber langfristig zu Zwietracht und Spaltung.

Das Wir wird drittens gefördert durch kollektive Ziele und Visionen. Es wäre großartig, wenn die verbindende Kraft gemeinsamer Zukunftsperspektiven und Träume nicht nur während Fußballweltmeisterschaften spürbar würde, sondern auch bei den gesellschaftlichen Herausforderungen, die wir demnächst werden meistern müssen.

Das Wir braucht viertens gemeinsame Regelwerke und Ordnungen, die den Spielraum zwischen individueller Entfaltung und Sozialverträglichkeit immer wieder neu austarieren. Die verbindende Idee der Gerechtigkeit fußt darauf, dass sich alle an Regeln halten.

Schließlich braucht das Wir ein erweitertes „Inzest-Tabu“. Es soll verhindern, dass wir nur um uns selbst kreisen oder um Themen und Menschen, die uns seelenverwandt sind. Wir sind nur gemeinschaftsfähig, wenn wir unseren engen Horizont des bereits Vertrauten und Bekannten überwinden und unsere Komforträume verlassen. Das war bereits in früheren Zeiten der Sinn der Lehr- und Wanderjahre. Die Auseinandersetzung mit dem Fremden stärkt nicht nur die eigene Ausrüstung, sondern erzieht auch zu Toleranz und Liberalität.

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