Stephan Grünewald diskutiert mit der Bundesregierung Insights aus der rheingold Forschung
Das Interview erschien am 16. März 2023 im Kölner Stadt-Anzeiger.
Herr Grünewald, Sie waren vom Kanzler eingeladen, um mit dem Kabinett das Thema „Zeitenwende und Zuversicht“ zu diskutieren. Welche aktuellen Erkenntnisse hat denn die rheingold-Forschung zu diesem Thema?
Die Zeitenwende hat in den Köpfen der Menschen noch gar nicht stattgefunden. Es gab weder eine Phase des Trauerns um das Vergangene noch eine visionäre Ausrichtung auf eine neue Zeit. Wir sind also, psychologisch betrachtet, in einer Nachspielzeit. Wir nehmen in unseren Studien eine starke Gegenwartsorientierung wahr. Die Menschen hoffen, dass ihr gewohntes Leben noch eine Zeitlang so weitergeht. Und anstelle des visionären Blicks nach vorn geht der Blick lieber in den Rückspiegel. Stichwort: Retrotrend.
Aber dass sich das Leben ändert, ist doch allenthalben spürbar.
Und die Regierung versucht, die Folgen abzumildern. Der Doppelwumms ist sozusagen der Gegenzauber zur Zeitenwende. Trotzdem sind die Menschen angesichts der dichten Abfolge von Krisen in einem Resignationsmodus. Sie fühlen sich ohnmächtig und ausgeliefert, das Vertrauen in die Politik und den Standort Deutschland erodiert, die Gereiztheit nimmt zu. Das Leben fühlt sich an wie russisches Roulette: Bislang ist es mit der Krisen-Pistole an der Schläfe noch bei jedem Abdrücken gut gegangen. Aber damit wächst die Angst, beim nächsten Mal ist die Patrone in der Trommel, und das Spiel ist aus.
Und dann?
In der Konsequenz nehmen die Menschen die großen Wünsche an das Leben zurück und geben sich schon damit zufrieden, wenn es – frei nach Karl Lauterbach – einen milden Verlauf nimmt.
Was haben Sie nach der geschilderten Diagnose als Therapievorschlag?
Zuversicht braucht im Wesentlichen dreierlei. Zuallererst – und das steckt schon im Wort selbst – eine Sicht, eine Zielperspektive. In einer rundum so komplizierten Lage wie gegenwärtig sollte die Politik wenigstens ein paar kleine Etappenziele bestimmen, wenn sie schon den großen Masterplan scheut, weil der womöglich nicht aufgeht.
Welche Ziele könnten das sein?
In der Energiekrise zum Beispiel ist das mit den Einsparzielen schon ganz gut gelungen, weil die Einzelnen das Gefühl hatten, sie können durch persönliches Verhalten ihren Beitrag leisten. Diese Art bürgerlicher Selbstermächtigung ist übrigens auch ein zweiter entscheidender Faktor für Zuversicht: Die Menschen wollen einbezogen sein, wollen in der Krise die eigene Handlungsfähigkeit erleben. Das hätte die Regierung ganz anders würdigen müssen.
Hat sie aber nicht?
Könnten Sie sagen, warum wir einigermaßen glimpflich durch den Winter gekommen sind? Waren es die LNG-Terminals? Der individuelle Verzicht? Oder doch nur die milden Temperaturen? Das hat die Regierung zu sehr im Unbestimmten und Abstrakten gelassen. Wenn der Staat so die Probleme einfach nur wegzumoderieren versucht, schwächt er das individuelle Selbstvertrauen. Dieser Mangel an Selbstvertrauen wird dann als Misstrauen gegenüber der Politik zurückprojiziert – und im Ergebnis wächst die Unzufriedenheit.
„Abstraktes Wegmoderieren“, sagen Sie. Meinen Sie damit auch die Riesensummen, die die Regierung zur Dämpfung der Krisenfolgen bereitstellt?
Nein. Es wäre ja fatal, wenn der Staat die gewaltigen, teils existenzbedrohlichen Belastungen einfach hinnähme. Die Politik hat hier eine fast elterliche Verantwortung: Sie muss das Gesamtgefüge sichern, so wie das die Eltern in der Familie tun. Aber das bedeutet nicht, dass die Kinder nicht beim Abtrocknen oder beim Aufräumen helfen. Auf die Situation der Gesellschaft übertragen: Wir hören in unseren Tiefeninterview sehr oft die Verwunderung von Bessersituierten, dass auch sie von der Gaspreisbremse profitieren. „Eigentlich Blödsinn. Ich könnte das doch stemmen.“ Auch daraus spricht die Sehnsucht, einen Beitrag zur Krisenbewältigung zu leisten. Die Kunst des Regierens besteht also darin, die Belastungen sozialverträglich abzufedern und gleichzeitig Eigeninitiative und Solidarität anzuregen.
Allerdings dürften Selbstwirksamkeit und Eigeninitiative etwa beim russischen Angriffskrieg mit seinen Folgen schwerlich umzusetzen sein. Auf das Kriegsgeschehen haben die Menschen hier in Deutschland keinen Einfluss.
Im Gegenteil, psychologisch gesehen, ist die Gestaltungsmacht gerade hier enorm. Ausdruck dessen sind die große Spendenbereitschaft, die Aufnahme von Geflüchtete, die Solidaritätsdemonstrationen.
Sie sprachen von drei Generatoren für Zuversicht. Was ist der dritte?
Das Wir-Gefühl, der Eindruck von Geschlossenheit. Das fängt bei der Regierung an. Ein Gefühl von Uneinigkeit zwischen den Koalitionspartnern und ihren Ministern lässt einen kakophonen Schwebezustand aufkommen, der die Dringlichkeit der Krise relativiert und wiederum Vertrauen kostet.
Das Gespräch führte Joachim Frank