Emotionen verstehen: Wie Tiefenpsychologie und Algorithmen genaue Prognosen ermöglichen

Tiefenpsychologie und Algorithmen

Das rheingold Institut kombiniert tiefenpsychologische Methoden mit der Emotional Recognition Technologie von TAWNY, die verschiedene Verfahren zur Messung von Emotionen vereint. Die Software ist dabei speziell auf die Remote-Studiendurchführung mit dafür typischen Stimuli optimiert und erkennt sehr subtile Reaktionen.

Dieser Artikel erschien am 23. Juni 2022 auf marktforschung.de.

Es sind diese Momente, in denen Marktforschende in die Köpfe der Konsumierenden schauen möchten. Hinter der Scheibe bei einer Gruppendiskussion hört man sich an, wie niemand in der Gruppe den 72-Stunden-Claim im Spot für ein neues Männerdeo sehen will: „Warum muss das 72 Stunden wirken, ich dusche doch jeden Tag?“ Oder dass Konsumierende eine erfolgreiche und hübsche Karrierefrau im Spot als „doof, dumm und klischeehaft“ beschreiben.

Mit einer guten tiefenpsychologischen Analyse kann man herausarbeiten, ob das wirklich nicht motivierend ist, oder ob es sich um rationale Abwehr gegenüber der Werbebotschaft handelt. Darauf aufbauend kommen implizite Verfahren ins Spiel, die die Probanden nicht beeinflussen können, weil ihre unbewussten und automatischen Reaktionen gemessen werden.

Schon lange gibt es auf Körperfunktionsmessungen wie Herzschlag, Hautwiderstand oder EEG basierende Verfahren, bei denen es wirklich so aussieht, als ob man Zugang zum Kopf der Probanden erlangen könnte.

Laborsituationen führen zu Fehleinschätzungen

Von diesen Verfahren haben wir immer Abstand genommen. Vor allem, weil es sich um eine Laborsituation handelt, in der kein Verbraucher so reagiert, wie er dies zuhause tun würde. Wissenschaftlich ist auch immer noch umstritten, ob man von Körperfunktionen valide auf spezifische Emotionen schließen kann. Körperfunktionen zeigen zwar die Intensität einer Emotion an, aber nicht ihre Richtung. Ein Beispiel: Der Herzschlag geht hoch, wenn man sich freut oder sexuell erregt ist, aber auch wenn man Angst oder Wut verspürt. Dieses Grundproblem bleibt auch erhalten, wenn man die Anzahl der Parameter erhöht und versucht, sie zu kombinieren.

Hier ist viel Wissenschaftsgläubigkeit im Spiel, und aus gutem Grund gilt zum Beispiel der Lügendetektor nach wie vor nicht als zuverlässig.

Deshalb suchen wir schon länger nach einer impliziten Messung von emotionalen Reaktionen, die direkter, natürlicher und letztlich auch evidenter ist. Dass der Gesichtsausdruck als Spiegel der Seele verstanden werden kann, ist lange bekannt und gut erforscht, zum Beispiel von Paul Ekman. Vor allem die Mikroemotionen sind unwillkürlich und verraten, auch wenn man das nicht will, was man wirklich fühlt. Zudem ist der Gesichtsausdruck, der von über 20 Muskeln geprägt wird, vielfältig, mit nahezu unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Das kann man in Medien, Kunst oder Emoticons eindrücklich sehen. Man muss sich dann auch nicht blind auf eine Messung verlassen, man sieht es selbst, und der trainierte Blick des Psychologen kann in der Mimik viel lesen.

Im Unterschied zu den sich im Verborgenen abspielenden Körperfunktionsmessungen sind Messungen des mimischen Ausdrucksgeschehens viel augenfälliger und unmittelbar evident.

Bessere Algorithmen bei Face-Reading

Für die Analyse des Gesichtsausdrucks gibt es schon lange Face Reading-Programme, die aus dem Kamerabild eines Gesichtes die Emotionen herauslesen. Am Anfang waren sie eher ungenau und die Messungen wenig detailliert. Durch die großen Fortschritte bei KI und Deep Learning sind die Algorithmen immer besser geworden. rheingold experimentiert schon länger mit verschiedener Software, zum Beispiel mit dem Face Reader von Noldus. Damit haben wir gute Ergebnisse erzielt, wie unsere eigenen Validierungsstudien durch Nachbefragungen in Tiefeninterviews ergaben.

Messung ohne zusätzliche Geräte

Seit einiger Zeit arbeiten wir mit der Software des jungen Münchener Unternehmens TAWNY, die aus unserer Sicht aktuell am besten zu unseren Anforderungen passt. Die Software kann am Endgerät der Probanden zuhause in der natürlichen Umgebung eingesetzt werden. Diese fühlen sich gar nicht als Probanden, sondern sitzen wie sonst vor dem Bildschirm mit Webcam, wo sie auch im Alltag Werbung konsumieren. „Automatic facial expression recognition“ durch die Webcam wird bei TAWNY zudem ohne zusätzliche Geräte mit Eye-Tracking kombiniert, kann Bewegungsmuster erlernen und zusätzlich den Herzschlag relativ zuverlässig messen.

Emotionen sind der Treibstoff des Handelns.

Die Software von TAWNY erkennt zum einen die Präsenz unterschiedlicher Emotionskategorien wie Überraschung, Freude, Traurigkeit oder Ärger. Die Algorithmen sind dabei speziell auf die Remote-Studiendurchführung mit dafür typischen Stimuli optimiert und erkennen vor allem auch sehr subtile Reaktionen.

Positive Emotionen und Handlungsbereitschaft erkennen

Auf der Grundlage der Deep Learning-Algorithmen wird dann eine multidimensionale Matrix aus Valence und Arousal gebildet. Vereinfacht kann man sich das als Qualität oder Richtung der Emotionen (Valence) und die Stärke im Sinne einer „willingness to act“ (Arousal) vorstellen. Die Ausprägungen sind ein guter Proxie für ein positive emotionale Wirkung. So lässt sich zum Beispiel ableiten, ob man gegenüber der Marke positive Emotionen entwickelt oder das Produkt selber gerne einmal ausprobieren möchte.

Hohes Arousal über die gesamte Darbietung ist zudem ein zuverlässiger Indikator für die Durchsetzungsstärke. Der Spot dringt im Werbeumfeld durch und erreicht den Verbraucher, der emotional reagiert. Er schaltet buchstäblich nicht ab.

Gerade bei Bewegtbild kann man durch gezielte Analyse des Emotionsverlaufs weitere Fragen beantworten:

  • Dringt die Marke durch, verfügt der Spot also über ausreichendes Branding?
  • Haben das Produkt und seine Benefits genug Raum?
  • Zeigen die Emotionsparameter, dass es sich um etwas interessantes Neues handelt, oder ist es nur Altbekanntes?

Auch echter Ärger über bestimmte Vignetten eines Spots zeigt sich in den Parametern, ebenso wie Verständnisschwierigkeiten. Dies kann man dann gezielt optimieren.

Emotional Recognition kombiniert mit tiefenpsychologischen Methoden

Es gibt zahlreiche Angebote im Markt, die ausschließlich auf Face Reading Tools setzten. Oft werden Face Reader auch als DIY-Tool verwendet, wobei es zu gravierenden Fehleinschätzungen kommen kann, wenn man sich mit der Aussagekraft der Parameter nicht genug auskennt. Solche Stand Alone-Anwendungen sind natürlich gut skalierbar, preiswert und schnell.

Die besseren Erfolge erzielen wir, wenn wir Emotional Recognition mit einer tiefenpsychologischen Analyse mittels Tiefeninterviews kombinieren.

Dabei arbeiten die Psychologen und die Face Reading-Spezialisten eng zusammen. Wir finden das zwingend notwendig, um die Inhalte der Werbewirkung zu klären. Werden die Motive des Produktbereichs gut angesprochen? Passt der Spot zur Markenpositionierung und werden die intendierten Ziele aus dem Agenturbriefing erreicht? Wenn man sich nur auf das Messen verlässt, kann es sein, dass ein Spot durchgewunken wird, der zwar emotional gut ankommt, dessen Botschaft aber für die Werbeziele kontraproduktiv ist.

Werbewirkung zuverlässig prognostiziert

So haben wir zum Beispiel in einem Storyboard-Test für eine junge Gesichtscreme herausgefunden, dass es eine tragende, sehr sympathische emotionale Kernszene gab, die aber nicht auf die Marke und das Produkt einzahlte. Zum Schluss ist dann bis auf diese Szene wenig an Werbewirkung hängengeblieben, was für eine Neueinführungskampagne eine Katastrophe wäre.

Wo kann man ein solches kombiniertes Vorgehen erfolgreich einsetzen? Sehr gut funktioniert es beim Bewegtbild. Das ist das emotionalste Medium: Man geht mit, identifiziert sich und es gibt sehr aussagekräftige Emotionskurven. Auch die Emotionen bei Storyboards oder Animatics lassen sich sehr gut messen, was für die Eignung des Vorgehens als Pretest wichtig ist. Wir starten bei der Verknüpfung der Methoden mit der Messung und Analyse der Gesichtsausdrücke. Die Ergebnisse liefern erste Hinweise auf Stärken und Schwächen des Spots sowie auf wichtige Vignetten und werden dann mittels Tiefeninterviews im Detail exploriert und analysiert. Die gewonnenen Erkenntnisse können dann noch einmal in die Detailanalyse der Face Reading-Parameter einfließen, die gemeinsam mit TAWNY durchgeführt wird.

Als Resultat bekommt man eine quantitative Werbewirkungsmessung, für die es auch Benchmarks gibt und ein umfassendes Verständnis der Werbeinhalte sowie dezidierte Optimierungsempfehlungen.

Auch die Emotionen bei Storyboards oder Animatics lassen sich sehr gut messen, was für die Eignung des Vorgehens als Pretest wichtig ist. Printmotive oder Verpackungen lassen sich ebenfalls gut untersuchen, vor allem wenn man Eye-Tracking integriert. Bei Verbalkonzepten, egal ob Positionierungen oder Produktkonzepte, muss man unter Umständen mit eher unklaren oder nicht eindeutigen Ergebnissen in der Emotionsmessung rechnen, weil sie weniger emotional wirken. Dann bleiben aber immer noch die Ergebnisse der Tiefeninterviews, um eine Bewertung vorzunehmen.

Einen wichtigen Beitrag kann das Ganze im Bereich UX leisten. Sei es beim Testen und Optimieren einer App, einer Online Customer Journey, einer Homepage oder eines Online-Stores.

Wir können dem Verbraucher auch mit unserem Vorgehen noch nicht in den Kopf schauen. Aber wir können messen und verstehen, was er wirklich möchte und womit wir ihn als Kunden gewinnen können.

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