Coronavirus – Ein Interview mit Stephan Grünewald

Coronavirus Wirtschaftswoche Interview

Stephan Grünewald, Psychologe und Chef des Marktforschers Rheingold, über die veränderten Konsumgewohnheiten nach der Coronakrise, das lange Leiden der Fluggesellschaften – und die neue Lust auf Urlaub in der Heimat.

Das Interview erschien am 4. Mai 2020 in der WirtschaftsWoche.

Herr Grünewald, Deutschland befindet sich in der ersten Lockerungsphase nach dem Shutdown. Erwarten Sie, dass die Konsumenten wieder einkaufen werden wie früher?

Der Corona-Shutdown hat uns alle psychisch und physisch mitgenommen. Jetzt erobern sich die Menschen Freiheit zurück, aber nicht sofort. Der Konsument verhält sich eher wie ein kranker Patient nach einem heftigen Infekt. Der freut sich über den ersten Zwieback, trinkt schwarzen Tee oder Cola, und arbeitet sich Schritt für Schritt in die Wirklichkeit zurück. So wird sich auch der Konsument in den kommenden Wochen verhalten.

Wie hat denn die bisherige Zeit die Psyche der Menschen beeinflusst?

Die Menschen sind mit einer Bedrohung konfrontiert, die sie nicht greifen können. Das Virus ist unsichtbar, keiner kann davor weglaufen. Das erzeugt Ohnmachtsgefühle. Deshalb haben die Leute in der Lockdown-Phase zu Hause ihre Handlungsfähigkeit demonstriert. Der Frühjahrsputz ist intensiver ausgefallen, Baumärkte wurden gestürmt. Denn die sind Orte der persönlichen Aufrüstung. Hier armiert man sich mit Bohrer, Hammer und Nägeln, um zu Hause Projekte zu erledigen. Das ist eine natürliche Reaktion, sich nicht mehr ohnmächtig zu fühlen.

Wie lange ist ein Zustand der sozialen Distanzierung auszuhalten?

Quarantäne leitet sich aus dem Wort Quaranta ab und das heißt 40. Das war schon im Mittelalter etwa bei der Pest eine wichtige Zahl. So lange wurden Kranke isoliert. An der Zahl orientieren sich im Übrigen auch die Sommerferien. Nach sechs Wochen brauchen die Menschen eine neue Perspektive. Deshalb ist es gut, dass die Menschen jetzt in eine neue Phase eintreten. Die Corona-App und die Maskenpflicht geben zudem ein gutes Gefühl der Kontrolle.

Wird sich das Konsumverhalten verändern?

Die Leute wollen das machen, was sie wochenlang vermisst haben. In erster Linie wollen sie ihre Freunde und Verwandten sehen, danach auch wieder in die Innenstädte fahren.

Tui pausiert das Reiseprogramm bis Mitte Mai. Werden die Deutschen jemals wieder an ihre Reisegewohnheiten anknüpfen wie in Zeiten vor der Coronakrise?

Die Deutschen sind Reiseweltmeister. Sie werden natürlich wieder reisen wollen, aber anders: Dieses Jahr fallen Mittelstrecken- und Fernurlaub definitiv aus. Einen Boom der Fernreisen sehe ich auf längere Zeit nicht. Stattdessen werden die deutschen Urlaubsziele florieren.

Ändert sich das Konsumverhalten der Deutschen möglicherweise sogar dauerhaft?

Die Menschen haben in der sozialen Isolation neue Erfahrungen gemacht, die teilweise überdauern werden. Viele haben zum Beispiel wieder Kontakt zu früheren Freunden aufgenommen oder vergessene Hobbys aufleben lassen. Viele nehmen daher positive Erfahrungen mit – dazu gehört auch das neu- oder wiederentdeckte Glück im Garten, beim Spaziergang oder bei der Heimarbeit. Das wird in der Zukunft Zeitbudgets in Anspruch nehmen – und andere Freizeitaktivitäten verdrängen. Die Menschen werden wieder ins Kino gehen, jedoch nicht so häufig, da sie Netflix als häusliche Alternative etabliert haben.

Erwarten Sie keine Überkompensation von bestimmten Dingen, die die Bürger vermisst haben?

Das gibt es auch. Bei den Restaurants etwa erwarte ich eine Überkompensationsbewegung. Die Leute haben sozial gefastet – und in der Zeit einen Heißhunger nach Geselligkeit entwickelt.

Aber wo genau erwarten Sie nachhaltig andere Verhaltensmuster?

Das wird davon abhängen, wie lange die Menschen noch Opfer bringen müssen. In Tiefeninterviews merken wir: Viele wollen die alte Welt nicht mehr eins zu eins zurück haben. Beispiel Meeting. Viele sagen: ‚Ich freue mich, wenn ich wieder im Büro arbeiten kann, aber ich möchte nicht mehr in die alte Vierzigstundenwoche zurück.‘ Vor allem die älteren Kollegen haben Entschleunigung im Homeoffice zu schätzen gelernt. Das wollen sie in ihr neues Leben mitnehmen. Vor allem Jüngere werden natürlich feiern wollen, Sport machen und lechzen nach Berührung. Da wird bald auf Teufel komm raus geflirtet. Es wird wieder knistern.

Welche Unternehmen werden profitieren, weil der Homo postcorona ein bisschen anders tickt?

Ikea wird profitieren. Das Image der Schweden passt perfekt in die Zeit. Der Möbelkauf bei Ikea wirkt wie ein Jungbrunnen, wie die die Antithese zur martialischen Eichenschrankwand, die ewig halten soll. Ikea macht Möbel, die nie perfekt sind, aber den Käufern immer die Berechtigung geben, neu anzufangen. Es sind Möbel für eine Lebensphase. Ikea gibt den Menschen den Neuanfang, den sie sich jetzt wünschen. Das Auto wird in Zukunft auch wieder eine größere Rolle spielen.

Warum?

Der öffentliche Nahverkehr wird auf längere Sicht kontaminiert bleiben. Das Auto dagegen suggeriert neben optimalen Schutz, auch Geborgenheit, Privatsphäre und flexible Mobilität.

Das spräche dann aber gegen eine Kaufprämie, oder?

Eine Kaufprämie würde den Wunsch nach einem neuen Wagen verstärken. Aber auch ohne Kaufprämie gehen die Leute wieder auf das Auto zu.

Ist der Stau in den Städten programmiert?

Wir werden Staus haben, aber nicht in dem Maße. Die Homeoffice-Erfahrung verändert die Arbeitswelt in Richtung mehr Flexibilität. Früher waren die Arbeitnehmer vielleicht 90 Prozent vor Ort im Büro, künftig dann noch 60 Prozent. Die Pendlerströme reißen ab.

Und steigen dann auch weniger in die Bahn?

Die Bahn wird als eine Art Zufluchtsort wichtig bleiben. Wir erleben derzeit eine Zweiteilung der Arbeitswelt. Die einen haben weniger zu tun und befinden sich in analoger Entschleunigung. Die anderen erleben im Homeoffice eine digitale Verdichtung. Ich erwarte, dass das so bleibt. Die Zugfahrt war schon früher eine Dehnungsfuge, um Stress abzubauen. Wer auf Dienstreise im Zug unterwegs war, konnte aus dem Fenster gucken, Kaffee trinken, flirten. Das wird auch nach der Coronakrise an Relevanz zurückgewinnen.

Und der Flieger?

Das Flugzeug wird verlieren. Dort fehlt den Menschen künftig die Entspanntheit, wenn sie neben ihrem unbekannten Nachbarn festgegurtet werden.

Reicht der Maskenzwang im Flieger nicht aus, um den Luftverkehr in diesem Jahr wieder in Gang zu bringen?

Der innerdeutsche Luftverkehr wird drastisch runtergefahren werden. Der wird auch langfristig nicht zurückkommen. Aus Angst vor zu großer Enge werden die Leute eher auf die Bahn umsteigen. Nur weite Strecken wie Hamburg-München werden gut ausgelastet geflogen werden können. Der Luftverkehr wird jahrelang unter dem Eindruck von Corona leiden.

Arbeitsminister Hubertus Heil fordert ein Recht auf Homeoffice. Wird das Homeoffice der neue Arbeitsstandard?

Das wird die Zeit zeigen. Corona wird uns bis mindestens Ende des Jahres begleiten. Die Unternehmen müssen sich daher kreative Lösungen überlegen – und schaffen damit neue Standards. Wir haben bei uns zum Beispiel eine Regelung getroffen, dass zwei Gruppen nie untereinander gemischt werden, wenn sie im Büro sind. Was bis Jahresende Standard ist, wird man nicht mehr zurückdrehen können. Das Homeoffice wird daher Normalität.

Jeder setzt nun Hoffnung in einen Impfstoff. Verändert der alles?

Sobald Corona beherrschbar ist, wird sich natürlich wieder einiges ändern. Die Menschen werden zum Beispiel wieder mit Begeisterung ins Stadion strömen. Aber bei anderen Dingen werden neu erlernte Verhaltensweisen überdauern: etwa beim Fliegen oder den wiederentdeckten Hobbys.

Das Gespräch führte Christian Schlesiger.

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