Mit hybriden Methoden Verbraucher verstehen

Stephan Urlings ist Managing Partner sowie Head of International Research beim Kölner Rheingold Institut. Wir sprechen mit ihm über den derzeit recht fruchtbaren Boden für Quali-Forschung, über Kooperationen sowie schlaue Tools, die die klassischen Methoden ergänzen und wie sich das Institut für die Zukunft fit macht.

Das Interview erschien in planung&analyse 1/2023.

Gefühlt macht derzeit jeder Dienstleister in der Branche qualitative Forschung – von offenen Fragen in einem Fragebogen über Communities bis zu mehrstündigen Tiefeninterviews. Wo sind da die Unterschiede, was würden Sie noch als qualitative Forschung bezeichnen? Und was eigentlich nicht mehr?

Ja, qualitative Forschung ist gerade sehr en vogue. Ich glaube, das hat etwas mit den sehr bewegten Zeiten zu tun. Wir haben tatsächlich eine Zeitenwende. Ich kann mich nicht entsinnen – und wir machen das jetzt seit über 35 Jahren – dass es Zeiten gab, in denen man wirklich nicht wusste, wohin die Reise geht. Sowas kriegt man in einem Fragebogen nicht heraus, man weiß gar nicht, welche Fragen man stellen muss. Solche Zeiten sind ein fruchtbarer Boden für Quali-Forschung. Die Verfahren selbst machen noch keine Quali-Forschung. Wenn man diese dann nur oberflächlich auswertet, ist das aus unserer Sicht nicht Qual. Es ist wichtig, dass man ein Referenzsystem hat. Einen Bezugsrahmen, der wissenschaftlich abgeleitet ist.

Ihre Methode beruht auf der Morphologie von Wilhelm Salber. Können Sie die Methode mal kurz erklären, etwa als Morphologie für Dummis?

Der Kontext steht im Mittelpunkt. Die Situation, in der ich etwas kaufe oder nutze, ist viel stärker determinierend für das Handeln als die Person selbst und deren Eigenschaften. Wenn ich einen Joghurt löffle, bin ich in einer anderen Verfassung, als wenn ich – sagen wir – ein saftiges Steak verschlinge. Die Motive und Bilderwelten sind ganz andere und vieles davon ist unbewusst. Was wir machen, basiert auf der Morphologie, aber wir haben die Methode sehr stark weiterentwickelt. Wir nennen sie heute die Rheingold-Methode. In den achtziger, neunziger Jahren waren die Zielgruppen auch noch leichter zu fassen. Heute ist alles viel fluider. Um den hybriden Verbraucher zur verstehen, brauchen wir flexible Methoden. Die haben wir entwickelt und die unterrichten wir ja auch an unserer Rheingold-Akademie, denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass im wissenschaftlichen Umfeld und in der Lehre an Universitäten die quantitative Forschung dominiert.

Und wie gehen Sie bei Ihrer Methode vor?

Wir schauen, was uns die Leute erzählen, das wird systematisch analysiert, in Erklärungsmodelle überführt und dann kann man auch zu abgesicherten Empfehlungen kommen. So ist es aber auch bei quantitativen Verfahren. Die funktionieren nur, wenn ich die Mathematik und Statistik beherrsche. Bei Quali muss ich wissen, wie ich das richtig auswerte, sonst lande ich im Anekdotischen und das ist gefährlich.

Aber es fällt auf, dass das Rheingold Institut immer häufiger auch quantitative Ergebnisse veröffentlicht? Wie kommt das? Trauen Sie Ihren qualitativen Forschungen nicht mehr?

Wir trauen unserer Forschung mehr denn je. Es ist ein Missverständnis, dass quantitative Forschung der Beweis für qualitative Forschung ist – es sind andere Daten, andere Insights. Wenn wir eine Segmentierung oder Typologie gefunden haben, kann es für den Kunden wichtig sein, auch mal eine Potenzialschätzungen vorzunehmen. Es geht vielmehr darum, die Ergebnisse zu quantifizieren, als sie zu beweisen. Wenn wir Motive mit unserer Forschung extrahieren, dann stellt sich die Frage, wie stark sind diese kaufentscheidend und führen etwa eine Treiberanalyse durch. Berührungsängste mit Quant hatten wir noch nie. Qual kann bestimmte Antworten geben und Quant kann bestimmte Antworten geben. Es geht nicht um besser und schlechter.

Haben Sie die Kompetenz im Haus oder arbeiten Sie mit einem anderen Institut zusammen?

Wir sind mit einer Kooperation mit einem anderen Institut gestartet. Jetzt haben wir ein kleines, aber feines Quant-Team mit Leuten – und das ist ein Privileg –, die auch die Morphologie beherrschen. Wir denken darüber nach, dass auszubauen. Wir werden aber immer darauf achten, dass es eine integrierte Studie aus einem Guss ist und man die Rheingold-Methode wiedererkennt.

Also das Rheingold-Institut bleibt in erster Linie ein Qual-Institut. Verstehe ich das richtig?

Es geht darum, zu guten Ergebnissen zu kommen. Sie müssen Tiefgang haben und Inspiration geben. Einfach nur etwas zu zählen, macht aus unserer Sicht keinen Sinn. Wir führen immer mehr integrierte Studien durch. Es kommt immer auf die Fragestellung an. So kann es sinnvoll sein, ein dreistündiges Tiefeninterview mit Online-Diaries zu kombinieren oder mit WhatsApp-Sprachnachrichten, die über eine längere Zeit von Probanden geschickt werden. Also ich würde Qual fast eher an der Qualität der Ergebnisse festmachen, dass sie wirklich aussagekräftig sind, valide, für Prognosen geeignet sind und den Kunden handlungsrelevante Empfehlungen für ihre Marketingentscheidung geben.

OK, dann hat sich das Institut für neue Methoden geöffnet. Wie sehr muss das in Zukunft noch passieren Also wie sieht Fortschritt beim Rheingold Institut aus? Wie ist das mit KI?

Wir sondieren fortwährend den Markt, evaluieren Methoden und haben unser Tool deepEmotions gelauncht. Wir arbeiten jetzt zum Beispiel mit Tawny bei der impliziten Messung von Emotionen zusammen. Das kombinieren wir allerdings mit Tiefeninterviews, denn wir vertrauen nicht allein der Messung. Davor würde ich auch warnen. Manche KI-Tools versprechen das Blaue vom Himmel. Ich nenne das schon mal gerne die Messias-Phase. So gibt es Werbemitteltests, bei denen gar kein Proband mehr involviert ist, sondern lediglich ein Computer mit KI-basierten Algorithmen, der die Werbung, die man ihm zeigt, mit einer Datenbank abgleicht. Es mag sein, dass das bei Standard-Werbung einigermaßen funktioniert. Ich persönlich glaube aber, dass solche Tools auch ein Killer für Innovation und Kreativität sein können. Denken Sie an die curvy Dove-Models. Ich könnte mir vorstellen, dass die bei einem solchen Test durchgefallen wären, obwohl es eine gute Kampagne war.

Erzählen Sie bitte etwas genauer, wie Sie vorgehen, bei deepEmotions? Sie führen erst Tiefeninterviews durch und testen dann zusätzlich mit dem Tawny-Tool?

Es geht vor allem um Werbewirkung von Printanzeigen oder Spots. Wir starten mit rund zwölf Tiefeninterviews, dann briefen wir Tawny, die nochmal rund 100 Probanden in einem Online-Panel den Spot vorspielen oder die Anzeige zeigen. Und dann schauen wir uns das noch mal gemeinsam an und führen die Analysen zusammen. Dann sieht man genau, an welchen Stellen waren die Betrachter irritiert, man sieht ein Stirnrunzeln oder winzige Bewegungen. Es geht ja nicht unbedingt um die großen Emotionen, also das übertriebene Lachen, sondern um Mikroexpressionen, die sehr subtil sind, die aber das Tawny-Tool erkennen kann. So kann man aus den vielen Explorationen, die wir jedes Jahr führen, herausfinden, ob die Marke gut repräsentiert, ob das Branding und die Aussage verstanden werden. Wichtig ist: Passen die Ergebnisse zu den Eindrücken aus den Interviews? Insofern ist das eine mehrschichtige Analyse, man muss interpretieren: Was passiert an welcher Stelle? Also das ist ein Tool, über das wir sagen: Das versteht man, es hat eine solide wissenschaftliche Absicherung, davon sind wir überzeugt und können es gut in unser Portfolio integrieren. Wir haben es noch nicht so lange im Markt, aber bisher gute Erfahrungen damit gemacht, und für die Kunden ist es ein schnelles, relativ preiswertes Instrument.

Haben Sie sich verschiedene Anbieter von emotionalen KI-Tools angeschaut?

Ja, wir haben eine interne Validierung durchgeführt. Was uns vor allem gut gefallen hat, dass es kein DIY-Tool ist. Bei Tawny sitzen erfahrene Fachleute, die die implizite Messung analysieren können. Es ist wichtig, dass wir da einen Schulterschluss von Fachleuten haben: Wir machen die Tiefeninterviews, Tawny die emotionale Analyse, zwei Verfahren, die sich gegenseitig kontrollieren und ergänzen. Das bringt die besseren Ergebnisse. Kooperation ist aus meiner Sicht für moderne Marktforschung ein wichtiger Punkt.

Wie muss sich ein Premiumanbieter wie das Rheingold Institut künftig verändern, öffnen, auf den Markt reagieren?

Ich sehe im Grunde zwei Strömungen. Die eine ist, dass alle taktischen Entscheidungen im Marketing-Mix, sei es eine neue Packung oder Werbung, immer schneller, immer preiswerter untersucht werden müssen. Da geht es stärker in die Automatisierung. Es wird dafür vermutlich immer weniger große Studien geben, weil sie die Budgets stark belasten. Auf der anderen Seite verändert sich die Welt gerade rasant und wir alle wissen nicht, in welche Richtung. Stichwort Zeitenwende. Für Unternehmen ist das eine große Unsicherheit. Als strategischer Partner von Unternehmen machen wir uns Gedanken über die Zukunft von Märkten. Wir haben das Modell des „Seamless Consumer“ entwickelt. Das heißt: Aus unserer jahrelangen Forschung zu Verbrauchermotivationen und Trends haben wir abgeleitet, wie sich Märkte und Verbraucher in den kommenden zehn Jahren entwickeln werden. Dazu haben wir Hypothesen aufgestellt und Szenarien formuliert und fragen Unternehmen, ob sie darauf vorbereitet sind. Haben Marken Antworten auf solche Entwicklungen? Zum Beispiel die Hyperpersonalisierung. Wir kaufen keine Produkte mehr von der Stange, sondern solche, die genau auf uns persönlich zugeschnitten sind – Stichwort Selbstoptimierung. Oder wenn irgendwann mal die Grenzen zwischen Retail und Marke verschwimmen, wenn der Einkaufsprozess nicht mehr hybrid, sondern wirklich „seamless“ ist.

Haben Sie mal ein Beispiel dazu, wie man sich das vorstellen kann?

Wir glauben, dass etwa bei Mobilität oder Beauty und Health die Menschen keine Produkte mehr kaufen werden, sondern ganzheitliche Lösungen für ihre Lebensaufgaben. Sie sind dann etwa bei einem Health-Anbieter Kunde, der bietet vielleicht sogar DNA-Tests, psychologische Tests, Analysen von Haut und Haaren an und hat ein ganzes Programm inklusive Services und Apps rund um die Gesundheit und Schönheit geschnürt. Dann ist das Produkt noch ein Bestandteil, aber nur ein kleiner. Diese Plattformen werden ungeheure Marktmacht bekommen, und wenn Markenartikler darauf nicht vorbereitet sind, dann werden sie Probleme bekommen. Das sind eher die Fragen, die gute Marktforschung heute aufwerfen sollte.

Dann wünschen wir viel Erfolg auf den neuen Wegen und danken für das Gespräch.

Das Interview führte Sabine Hedewig-Mohr

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