Medienstudie China

Medienstudie China

Wie Fische im Schwarm

Junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren in China und Deutschland unterscheiden sich in ihrer Mediennutzung, Markenwahrnehmung und Werberezeption grundlegend. Frank Quiring, Stephan Urlings und Wutao Wen vom rheingold Institut haben sich in Tiefeninterviews den Befindlichkeiten genähert.

Der Artikel erschien am 24. April 2018 bei planung&analyse.

China ist der Marktplatz der Zukunft und westliche Unternehmen drängen in diesen dynamischen und lukrativen Markt. Hier gilt es, Marken wirkungsvoll zu positionieren und das Potenzial des chinesischen Wirtschaftswachstums optimal zu nutzen. Wir wollten wissen, welche Fehler in der Kommunikation es zu vermeiden gilt und welche kulturellen Missverständnisse sich als echte Killer erweisen.

Um grundlegende Einblicke in die Unterschiede zwischen Deutschland und China zu geben, wurde eine tiefenpsychologische Eigenstudie unter jungen Erwachsenen in China wie in Deutschland zum Thema Mediennutzung, Markenwahrnehmung und Werberezeption durchgeführt.

Yin und Yang trifft auf Dialektik

Die Unterschiede zwischen jungen Erwachsenen in China und Deutschland sind frappierend – Yin und Yang trifft auf Dialektik, Gemeinschaft auf Individualismus, Harmonie auf Auseinandersetzung. Diese Differenzen finden sich auch in der Mediennutzung und Werberezeption: Marken kommen ganz unterschiedliche Rollen zu. Wer in China mit seinen Produkten Erfolg haben will, muss diese Unterschiede kennen und die Marketingstrategie danach ausrichten.

Das sind die wichtigsten Thesen:

  • Jungen Chinesen geht es um die Zugehörigkeit zum Kollektiv und eine Identität als internationale Weltbürger.
  • Für Chinesen geht es bei Marken nicht um Abgrenzung, sondern um Akzeptanz im Kollektiv.
  • Junge Deutsche suchen bei Marken vor allem Halt und Orientierung und wollen ihre Individualität ausdrücken.
  • Während der deutsche Konsument Marken zur Selbst-Stabilisierung nutzt, fühlt sich der junge Chinese auch ohne die Marke im inneren Kern sicher.
  • Marken sind für junge Deutsche eher ein Haus, für Chinesen ein Fenster.
  • Das Smartphone hat für junge Menschen in beiden Ländern höchste Bedeutung – doch nur die Deutschen spüren ab und zu bereits Überdruss.
  • Chinesische Werbung vermittelt gerne eine kitschige Welt aus Aufbruch und Harmonie – Konflikte sind tabu.

Die chinesische Kultur baut auf dem Ur-Prinzip von Yin und Yang auf: Es sind Gegensätze, die immer zusammengedacht werden und aufeinander angewiesen sind. Das heißt bei allen individuellen Unterschieden und Abweichungen wird immer auch deren Einheit betont (Taoismus, Konfuzianismus). Das ist die Grundlage für die kollektive Kultur Chinas, in der das Individuum als Teil einer Gemeinschaft betrachtet wird, ohne die es nicht leben kann. Oberstes Gebot ist der harmonische Ausgleich.

„Wir sind wie Fische im Schwarm. Alle schwimmen in die gleiche Richtung. Ich schwimme etwas tiefer. So weiß ich, dass ich etwas anders bin, ich will aber mit den anderen schwimmen.“

junger Mann, 24 Jahre, Servicepersonal in einer Karaokebar in Beijing

Was in Deutschland oft als anstrengend erlebt wird, ist in China ein geliebtes Lebensgefühl: Re Nao, heiß und laut, sind dichtgedrängte Gruppen, die kultiviert und gelebt werden bei Tempelfesten, Familienfesten und vielen anderen Aktivitäten.

Zugleich zeigt sich ein ungeheurer Entwicklungsdrang bei den jungen Chinesen. Sie sind hungrig nach neuen Erfahrungen, nach Bildung, nach Wissen, nach Reisen. Dabei hat die Anerkennung der Gruppe hohe Priorität. Ziel ist es, Teil einer modernen, gebildeten Global Community zu werden und trotzdem den asiatischen traditionellen Werten zu genügen.

Auch wenn die jungen Chinesen westlich gekleidet sind, häufig mit markanten Accessoires wie Hüten oder Taschen, so zeigt sich in den Interviews, dass sie sich nicht in einem westlichen Sinne abgrenzen wollen. Es geht darum, von allen akzeptiert zu werden.

Die jungen Deutschen ticken dialektisch

Die westliche Kultur geht geistesgeschichtlich auf das Prinzip der Dialektik (Platon) zurück. Es geht nicht um harmonischen Ausgleich, sondern um unabhängige Meinungen, deren Vertreter sich auseinandersetzen und sich darüber weiter entwickeln. Ziel ist vor allem die persönliche Entwicklung und Freiheit.

Mittlerweile ist unsere Kultur jedoch in einem Ausmaß individualisiert, dass man von einer Krise des Individuums sprechen kann. Das zeigen verschiedene rheingold-Studien über alle Branchen hinweg. Verbindendes erodiert, es gibt ein großes Bedürfnis nach Halt und Orientierung. Die Seelenlage der jungen deutschen Befragten ist wie ein baufälliges Haus, das in der Vergangenheit von stabilen Pfeilern aus Religion, gesellschaftlichen Werten und Normen gesichert wurde – diese Aufgabe übernehmen heute mehr und mehr Medien, Marken und Werbung.

Während der deutsche Konsument Medien, Marken und Werbung zur Selbst-Stabilisierung nutzt, fühlt sich der junge Chinese auch ohne diese Pfeiler im inneren Kern sicher. Ihr schützendes, stabiles Haus ist das Kollektiv. Marken übernehmen eher die Funktion von Fenstern, durch die sie sich von fremden Welten inspirieren lassen und neue Entwicklungspotenziale in Augenschein nehmen können. Der Drang nach Aufbruch junger Chinesen kanalisiert sich auch deshalb im Konsum, weil andere Felder wie Gesellschaft und Politik stark reglementiert sind. Der Konsum ist frei und unbeschränkt, Marken verheißen für die Chinesen Fortschritt und Entwicklung.

Für Chinesen geht es um Akzeptanz

In China sind wie in Deutschland große, bekannte Marken wichtig. Da ist zum Beispiel Coca-Cola als Verheißung des ewigen Jungbrunnens oder die Verleihung göttlicher Allmacht durch ein Apple-Smartphone, auf dem mit einem Fingerwisch Welten bewegt werden.

In Deutschland sind auch kleine, unbekanntere Marken von Bedeutung, um die eigene Individualität zu unterstreichen. Chinesen wollen nicht als Individuum herausstechen und lieben deshalb die großen internationalen Marken. Mit einem Apple-Produkt können sie zum Beispiel stolzer Besitzer eines Statussymbols sein, bleiben aber dennoch Teil eines umfassenden Marken-Kollektivs.

Dieses Prinzip zeigt sich sogar in Personen, die zu einer Marke werden. Das chinesische Model Liu Wen (刘雯) hat auf Weibo (dem chinesischen Twitter) mehr als zehn Millionen Follower und arbeitet als eine der wenigen chinesischen Laufstegmodels für Schauen von Burberry, Chanel oder Jean Paul Gaultier. Dennoch wird sie von ihren Fans Biao Jie (Cousine) genannt, weil sie trotz ihres Ruhms die chinesische Bescheidenheit und familiäre Zugänglichkeit besitzt.

Junge Chinesen lieben es, sich wie die angehimmelten Idole zu kleiden und auszustatten. Wichtig dabei ist, dass es bekannte Stars sind, am besten mit unzähligen Followern, wie auch Angelababy, Model, Schauspielerin und Sängerin. Denn damit kann man einerseits zeigen, wie modern und fortschrittlich man ist und zugleich fühlt man sich als Teil einer großen Gruppe.

Alibabas Online-Plattform Tmall.com ordnet die dort verkauften Marken in einen eigenen Marken-Rahmen ein: Das ist nicht nur Markenstrategie, sondern bedient den Wunsch der Chinesen, sich in einem Kollektiv aufgehoben zu fühlen: wenn man bei Tmall kauft, ist man in diesen großen Rahmen eingebettet.

Fernsehen als familiärer Touchpoint

Auch die Mediennutzung ist eingebettet in den Wunsch nach Verankerung im Kollektiv und das Drängen nach Entwicklung. Print spielt (wie in Deutschland) kaum eine Rolle, das TV ist in China stark zensiert und wird als geschönter, aber eben auch schützender Touchpoint wahrgenommen.

Fernsehen ist mit Kindheitserinnerungen verbunden, viele junge Chinesen schauen TV vor allem gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern, es steht für warme, familiäre Werte. TV-Spots müssen diese Tonalität unbedingt transportieren, um akzeptiert zu werden.

Die kitschige Welt der chinesischen Werbung

Werbung wirkt in China oft wie eine plakativ überzeichnete, dem westlichen Auge manchmal kitschig erscheinende, schöne neue Welt. Das ist Ausdruck des kulturellen Hintergrunds: Werbung soll zum Träumen anregen, Aufbruch vermitteln, in neue Welten versetzen. Zugleich muss die Welt aber harmonisch bleiben, weshalb Werbespots häufig recht glatt und ungebrochen wirken.

Konflikthafte (dialektische) Werbung, die in Deutschland geschätzt wird, funktioniert in China kaum. IKEA hat im Oktober einen sozialen Shitstorm wegen eines TV-Spots erlebt, in dem ein Konflikt zwischen Eltern und Tochter inszeniert wurde. Deutsche lassen sich von solchen Szenarien inspirieren, weil sie dem vertrauten Prinzip der Dialektik entsprechen. Auf junge Chinesen wirken sie geradezu verstörend.

Chinesen entwickeln aus Harmoniewunsch westlichen Blick

Die chinesische Harmonie-Neigung kann auf professioneller Ebene sogar zum Problem werden. Diese Erfahrung mussten westliche Agenturen machen, die chinesische Mitarbeiter angeheuert haben, um mit ihnen treffende Kommunikations-Konzepte für den chinesischen Markt zu entwickeln. Doch die chinesischen Mitarbeiter blieben dem Harmoniestreben treu und zwar mit dem neuen Arbeitgeber. Der eigene Blick wurde so adaptiert, dass im Ergebnis typisch westliche Werbung entstand, die in China nicht gut ankam.

Kollektiver Shoppingrausch

In China wird prinzipiell Konflikt und Vereinzelung vermieden. Das beste Beispiel ist das Shoppingfestival „11.11.“, mit dem das eher individualistische Online-Shopping von der größten E-Commerce-Firma Chinas, Alibaba, zum kollektiven Rabatt-Erlebnis-Tag transformiert wird. Auf der glanzvollen Countdown-Gala animieren chinesische und internationale A-Prominente den Zuschauer zum Kauf.

Der Höhepunkt des Events ist Enthüllung des Umsatzes, der vom Staatsmedium china.com.cn als „Erfolg der gesellschaftlichen Koordination“ bejubelt wird. Alibaba hat durch das „11.11.“-Event erfolgreich die einsamen Käufer vereinigt.

Smartphone für Deutsche ambivalenter als für Chinesen

Das Smartphone hat für beide Nationalitäten die höchste Bedeutung und wird ähnlich genutzt: Für das Sich-Verbinden über die sozialen Netzwerke, Infotainment und als praktischer Alltagsbegleiter. Es steht bei jungen Deutschen aber nicht in der ungebrochenen Euphorie und Wachstumsdynamik wie in China, sondern wird viel ambivalenter erlebt.

Geklagt wird über das Smartphone immer dann, wenn die Nutzung überhand nimmt und man sich zu verlieren droht – einige verzichten dann schon mal bewusst auf ihr Handy oder bestimmte soziale Netzwerke.

Zentral ist in China die permanente Vernetzung mit den Freunden, dem Klein-Kollektiv. Das Handy ist der Schutzraum, den man mit seinen Freunden bewohnt.

Gleichzeitig gewährt es eine gewisse Eigenständigkeit: Da es im Gegensatz zum Fernsehen vergleichsweise wenig zensiert ist, kann man über Plattformen wie „Weibo“ eigene Meinungen kundtun und an globaler Entwicklung teilhaben. Für die Mentalität junger Chinesen eine perfekte Kombination.

Ähnliche Beiträge